Es war ein eiskalter Januarmorgen. Amy machte sich gerade auf den Weg zur Arbeit, als sie am Rand ihrer Einfahrt etwas Ungewöhnliches bemerkte. Zuerst dachte sie, es sei Müll – aber dann sah sie genauer hin: Es war eine alte Frau, zusammengesunken im Schnee. Ihre Lippen waren blau, ihr Mantel viel zu dünn für diese Kälte, und sie wirkte kaum noch am Leben.
— Hallo? Können Sie mich hören? — rief Amy erschrocken, während sie ihr Handy zückte.
Die Augen der Frau flatterten kurz auf, und mit schwacher Stimme flüsterte sie:
— Nein… warte… ein Brief… für dich… in meiner Manteltasche.
— Ein Brief? — fragte Amy verwirrt. Die Frau zeigte mit zitterndem Finger auf ihre Jackentasche.
Amy zögerte, griff dann aber hinein und zog einen kleinen, abgenutzten Umschlag heraus. Auf der Vorderseite stand in krakeliger Schrift: Amy.
Amys Herz raste. Woher kannte diese fremde Frau ihren Namen?
💌 Ein Brief aus der Vergangenheit
Amy rief sofort einen Krankenwagen. Die Sanitäter kamen schnell und brachten die Frau ins Krankenhaus. Dort erhielt Amy einen Anruf – die Frau war stabil und wollte sie sehen.
— Du bist gekommen — flüsterte die Frau im Krankenhausbett. — Ich hatte solche Angst, dass du nicht kommst.
— Wer sind Sie? Und warum waren Sie vor meinem Haus? — fragte Amy, völlig überfordert.
Die Frau lächelte schwach:
— Ich bin deine Großmutter. Deine leibliche Großmutter.
Amy erstarrte.
— Das kann nicht sein. Meine Mutter hat mir gesagt, dass ihre Mutter gestorben ist, bevor ich geboren wurde.
— Das hat sie dir erzählt, um dich vor mir zu schützen. Ich habe sie verlassen. Ich habe dich verlassen.
Amy kämpfte mit den Tränen.
— Warum? Warum hat sie das alles verheimlicht?
— Weil ich damals voller Stolz und Kälte war. Deine Mutter verliebte sich in deinen Vater – einen einfachen Tischler. Ich stellte sie vor die Wahl: ihn oder das Erbe. Sie entschied sich für die Liebe… und ich war zu stolz, um meinen Fehler einzugestehen.
Die Frau reichte Amy einen weiteren Umschlag.
— Das ist mein Testament. Alles, was ich habe, gehört jetzt dir. Es kann meine Fehler nicht wiedergutmachen, aber es ist das Einzige, was ich dir geben kann.
Amy öffnete den Umschlag: Besitzurkunden, Kontodaten, Vollmachten.
— Ich will kein Geld — sagte sie unter Tränen. — Ich wollte nur eine Großmutter, die mich liebt.
🌱 Ein neues Kapitel
Einige Wochen später verstarb die Frau. Bei der Beerdigung waren kaum Menschen anwesend – ein stiller Beweis für die kaputten Beziehungen in ihrem Leben.
Doch Amy entschied sich, die Vergangenheit nicht umsonst gewesen sein zu lassen.
Mit dem geerbten Vermögen gründete sie ein Stipendium im Namen ihrer Mutter – für alleinerziehende Mütter, die eine Ausbildung machen wollen.
An einem Abend saß Amy mit ihrem Vater auf der Veranda.
— Ich hätte dir von ihr erzählen sollen — sagte er leise.
— Du wolltest mich schützen — antwortete Amy und nahm seine Hand. — Und jetzt kann ich andere schützen. Mama wäre stolz auf uns.