Prue saß still in der Ecke von Herrn Mitchels Klassenzimmer, die Hände im Schoß gefaltet.
Ihr Blick schweifte über den Raum: Bücherregale voller Erziehungsratgeber, bunte Kisten mit Puzzles und Spielzeug, eine gemütliche Leseecke mit einem Sitzsack unter einem aus Papier gebastelten Baum an der Wand.
Der Raum wirkte warm und sicher. Sie wollte glauben, dass er ihre Tochter Ellie vor der Härte der Welt beschützen konnte.
Die Tür öffnete sich leise. Herr Mitchels trat mit ruhiger, freundlicher Ausstrahlung ein. Seine Stimme war sanft, als er sie begrüßte.
„Mrs. Harper“, sagte er freundlich und reichte ihr die Hand. „Es ist mir eine Freude. Ellie hat sehr gut bei der Aufnahmeprüfung abgeschnitten. Es ist nicht leicht, an diese Schule zu kommen.“
Prue lächelte höflich und schüttelte ihm die Hand.
„Danke. Wir sind wirklich dankbar für diese Chance. Aber es gibt etwas, das ich Ihnen sagen muss, bevor sie beginnt.“
Er nickte und lud sie ein, fortzufahren.
„Ellie ist adoptiert“, begann Prue.
„Wir waren immer ehrlich zu ihr. Aber sie hatte eine schwere Vergangenheit – wurde an früheren Schulen gemobbt. Ich will einfach nur sicherstellen, dass sie sich hier sicher fühlt.“
Herr Mitchels hörte aufmerksam zu.
„Danke, dass Sie mir das sagen. Das ist wichtig. Ich verspreche, gut auf sie zu achten. Jedes Kind soll sich hier sicher und willkommen fühlen.“
Erleichterung entspannte Prues Schultern.
„Ich weiß das zu schätzen“, sagte sie und stand auf. Doch als sie zur Tasche griff, fragte er plötzlich:
„Wenn ich fragen darf – wann haben Sie Ellie adoptiert?“
Prue zögerte kurz, dann antwortete:
„Vor fünf Jahren. Ihre leiblichen Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz gestorben. Sie war damals erst drei.“
Für einen Moment zuckte etwas über sein Gesicht – Überraschung?
Seine Hand zitterte leicht, bevor er sie unter den Tisch schob.
„Geht es Ihnen gut?“, fragte Prue besorgt.
Er zwang sich zu einem Lächeln. „Ja, nur Kopfschmerzen. Danke, dass Sie gekommen sind.“
Sie nickte und ging – doch ein ungutes Gefühl blieb.
Die Wochen vergingen wie im Flug: Pausenbrote, verlorene Schuhe, Hausaufgaben.
Ellie schien okay – vielleicht etwas ruhiger – aber sie lächelte abends und erzählte von ihrem Tag.
Und doch… Prues Mutterinstinkt sagte ihr, dass etwas nicht stimmte.
Eines Abends hörte sie an Ellies Tür das Geräusch von Buntstiften.
Sie spähte hinein und sah ihre Tochter konzentriert am Schreibtisch sitzen, die Zunge herausgestreckt.
„Was malst du da, Liebling?“, fragte sie sanft.
Ellie strahlte und hielt ihre Bilder hoch – Sonnenhimmel, grüne Wiesen, der Hund Scout.
„Wunderschön“, sagte Prue und blätterte durch. Doch ein Bild ließ sie erstarren.
Drei Strichmännchen standen nebeneinander: „Mama“, „Papa“ – und ein drittes: „Onkel“.
Prues Herz klopfte schneller.
„Ellie… wer ist das hier?“
Ellie schaute zu Boden.
„Ich hab’s versprochen, Mama. Es ist ein Geheimnis.“
Prue küsste ihr Haar, das Herz pochte.
„Okay, Liebling. Aber denk dran: Du kannst mir immer alles sagen.“
In dieser Nacht konnte Prue nicht schlafen.
Ellie hatte keine Onkel. Weder sie noch ihr verstorbener Ehemann hatten Geschwister.
Wer war also dieser mysteriöse „Onkel“?
Am nächsten Tag – kurz bevor sie Ellie von der Schule abholen wollte – klingelte ihr Handy.
„Mrs. Harper? Hier ist Herr Mitchels. Ellie hat ein paar Schwierigkeiten beim Lesen. Ich würde sie gern noch ein wenig dabehalten.“
Prue runzelte die Stirn.
„Sie hat nie etwas davon erwähnt.“
„Vielleicht schämt sie sich ein bisschen“, meinte er.
Es war nicht das erste Mal, dass Ellie länger blieb. Aber heute… fühlte sich etwas falsch an.
„Verstanden“, sagte Prue, doch sobald sie auflegte, griff sie zu den Schlüsseln und rannte los.
An der Schule waren die Flure leer. Ein Hausmeister sagte, er habe Ellie oder Herrn Mitchels nicht gesehen – aber er glaube, dessen Auto sei gerade weggefahren.
„Vielleicht sind sie im Park“, meinte er beiläufig.
Prue fuhr ohne zu zögern direkt dorthin.
Im Park herrschte reges Treiben – Kinder lachten, Hunde bellten.
Und dann sah sie sie:
Unter einem Ahornbaum saßen Herr Mitchels und Ellie – sie aß fröhlich ein Eis.
Erleichterung durchströmte sie – gefolgt von Zorn.
„Ellie!“, rief sie.
Die Kleine drehte sich um, strahlte. „Mama!“
Prue lief zu ihr, schloss sie fest in die Arme, prüfte sie schnell – keine Verletzungen.
Dann wandte sie sich wütend an den Lehrer:
„Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie sie mitgenommen haben? Sie sagten, sie sei im Unterricht!“
„Sie brauchte eine Pause“, sagte er nervös. „Sie wollte ein Eis. Ich dachte, der Park wäre gut für sie.“
„Sie haben gelogen“, sagte Prue eisig.
„Und das Bild… sie nennt Sie Onkel. Was geht hier vor?“
Er atmete tief durch, seine Fassade begann zu bröckeln.
„Ich wollte nicht lügen. Ich wusste einfach nicht, wie ich es sagen sollte.“
„Was sagen?“
„Ich bin ihr Onkel. Jessica, ihre leibliche Mutter, war meine Schwester.“
Prue erstarrte.
„Ich habe es erst nach dem Flugzeugabsturz erfahren“, fuhr er fort.
„Man hat mich kontaktiert, aber ich war nicht in der Lage, sie aufzunehmen – kein Job, kein Zuhause. Als ich ihren Namen in der Schulakte sah… wusste ich es. Ich wollte einfach nur wissen, wie es ihr geht. In ihrer Nähe sein.“
Prues Stimme war fest:
„Sie hätten mir die Wahrheit sagen müssen. Sie ist meine Tochter. Sie hatten kein Recht, das zu verheimlichen.“
„Ich weiß“, flüsterte er. „Aber… wenn Sie es zulassen, würde ich gerne Teil ihres Lebens sein.“
Prue sah Ellie an – die still nach ihrer Hand griff.
Ihr Herz wurde weich. Verwirrt… aber nicht verschlossen.
„Ich denke darüber nach“, sagte sie. „Aber ab jetzt – keine Lügen mehr.“
Am nächsten Tag trafen sie sich in einem ruhigen Café.
Ein kleiner Tisch. Kalter Kaffee. Ernste Worte.
„Bei mir ist sie sicher“, sagte Prue. „Das ist das Wichtigste.“
„Ich will sie Ihnen nicht wegnehmen“, antwortete er. „Ich will einfach ein Teil ihres Lebens sein. Ich liebe sie.“
„Sie haben einen Fehler gemacht“, sagte Prue. „Aber vielleicht ist es nicht zu spät, es besser zu machen.“
Hoffnung glomm in seinen Augen.
„Darf ich sie sehen?“
Prue nickte.
„Zu meinen Bedingungen. Besuche, Ehrlichkeit, keine Geheimnisse mehr.“
„Natürlich“, sagte er sofort.
Draußen ging das Leben weiter.
Und Prue öffnete – um Ellies willen – eine kleine Tür.
Kein vollstes Vertrauen… aber genug.
Genug für einen Neuanfang.
