Manchmal sind es genau die Menschen, von denen man Liebe erwartet, die uns am meisten verletzen.
Ich hätte nie gedacht, dass jemand so grausam zu einem Kind sein könnte.
Am Morgen des Schulfests war das Kleid meiner Tochter zerstört.
Doch was am meisten schmerzte, war nicht der Schaden selbst… sondern zu wissen, wer dahintersteckte – und warum.
Ich war seit sechs Jahren mit Charles verheiratet. Unsere Töchter, Lily (meine) und Linda (seine aus erster Ehe), waren gleich alt.
Sie teilten sich ein Zimmer, gingen auf dieselbe Schule und waren unzertrennlich. Wie echte Schwestern.
— Mama, dürfen wir jetzt Kekse essen? — fragte Lily.
— Nur wenn ihr mit den Hausaufgaben fertig seid! — antwortete ich lachend.
Kurze Zeit später stürmten beide kichernd in die Küche.
— Wir verhungern! — sagte Linda dramatisch und griff nach einem Keks.
— Papa kommt wohl wieder spät, oder? — fragte Lily.
— Haushaltsbesprechung. Er meinte, wir sollen nicht auf ihn warten.
— Habt ihr den Flyer gesehen? Für das Frühlingsfest? — rief Linda begeistert. — Wir sollten unbedingt mitmachen!
— Ich weiß nicht… — zögerte Lily.
— Komm schon! Wir könnten sogar passende Kleider tragen!
— Und wer soll diese Kleider nähen? — fragte ich mit erhobener Augenbraue.
Beide schauten mich mit denselben bittenden Augen an.
— Bitte, Mama! Du bist super mit der Nähmaschine — sagte Lily.
— Bitte, Elina! — rief Linda. Sie nannte mich nie „Mama“, aber in ihrer Stimme lag dieselbe Wärme.
— Na gut — seufzte ich. — Aber ihr helft beim Design!
Am Abend umarmte mich Charles.
— Meine Mutter hat angerufen. Sie lädt uns alle zum Sonntagsessen ein.
Mein Magen zog sich zusammen.
— Wendy hat uns alle eingeladen?
— Naja, sie hat vor allem nach Linda gefragt…
— Ist schon gut — unterbrach ich ihn. — Es ist schon länger her, dass sie einen Spruch gemacht hat.
— Ich habe mit ihr gesprochen, Elina. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll.
— Wir müssen ihr einfach zeigen, dass wir eine Familie sind. Alle zusammen.
Das Essen bei Wendy war, wie immer, anstrengend.
Auch dieses Mal.
— Linda, Liebling, ich habe etwas für dich — sagte sie nach dem Braten und überreichte ihr eine kleine Schachtel.
Darin war ein silbernes Armband mit Herzanhänger.
— Danke, Oma! Das ist wunderschön!
Lily saß still daneben, die Augen traurig auf den leeren Teller gerichtet.
Es tat weh.
— Die Mädchen haben tolle Neuigkeiten — sagte ich. — Sie treten gemeinsam beim Frühlingsfest auf.
— Wie schön — sagte Wendy, ihr Lächeln verblasste leicht. — Linda, du wirst auf der Bühne bezaubernd sein. Ganz wie deine verstorbene Mutter.
— Beide Mädchen werden fantastisch aussehen — fügte ich hinzu.
— Natürlich — sagte Wendy kühl und wandte sich wieder Linda zu. — Ziehst du das blaue Kleid an, das wir neulich im Einkaufszentrum gesehen haben?
— Eigentlich — mischte ich mich ein — nähe ich die Kleider selbst. Passende Modelle für beide.
— Passende Kleider? Aber Linda sollte herausstechen. Sie hat einfach die richtigen Voraussetzungen.
— Mama… — sagte Charles vorsichtig.
— Manche Mädchen sind einfach wie gemacht für so etwas. Das liegt in den Genen.
— Entschuldigen Sie mich — sagte Lily leise. — Ich muss auf die Toilette.
Nachdem sie gegangen war, sah ich Wendy ernst an.
— Wendy, wir haben darüber gesprochen. Beide Mädchen verdienen gleiche Behandlung.
— Elina, Schatz, ich bin nur ehrlich. Lily ist DEINE Tochter. Nicht die von Charles. Warum sollte ich etwas anderes vortäuschen?
— Weil wir eine Familie sind — sagte Charles mit fester Stimme.
— Familie ist Blut — erwiderte Wendy eisig. — Lily ist nicht meine Enkelin. Und sie wird es auch nie sein.
— Mama, bitte…
— Charles, ist schon gut — unterbrach ich ihn ruhig. — Lass uns einfach gehen.
Ich arbeitete tagelang an den Kleidern: hellblauer Satin, handgestickte Blumen auf dem Oberteil.
Die Mädchen probierten sie an, drehten sich vor dem Spiegel und strahlten.
— Das ist das schönste Kleid überhaupt! — rief Lily.
— Elina, du bist ein Genie! — sagte Linda.
— Ihr werdet alle Blicke auf euch ziehen — sagte ich stolz.
Die Aufführung war für Samstagmorgen geplant.
Da sie in Wendys Nähe stattfand, schlug Charles vor, dass wir die Nacht dort verbringen.
— Das macht Sinn. Sonst müssten wir im Morgengrauen losfahren.
— Und die Kleider?
— Wir nehmen sie mit und hängen sie sicher auf. Nur eine Nacht.
Ich willigte ein. Vielleicht war ich wirklich zu misstrauisch.
Am Freitagabend hängte ich die Kleider im Gästezimmer der Mädchen auf.
Beim Abendessen war Wendy ungewohnt freundlich, stellte Fragen und hörte zu.
Ich entspannte mich.
Nach dem Dessert fragte Lily vorsichtig:
— Oma, darf ich mein Kleid noch einmal anprobieren?
Stille. Das war das erste Mal, dass sie sie direkt „Oma“ nannte.
Wendys Lächeln gefror.
— Ich denke, das ist keine gute Idee. Du könntest es beschmutzen.
— Ich bin super vorsichtig…
— Ich habe Nein gesagt — antwortete sie kühl. — Nicht alle Mädchen sind für solche Auftritte gemacht. Manche haben eben nicht das gewisse Etwas.
Lily schluckte, zwang ein Lächeln.
— Du hast recht. Ich hebe es mir für morgen auf.
Später, beim Zudecken, flüsterte Lily:
— Sie hasst mich, oder?
— Nein, Liebling — log ich. — Sie weiß nur noch nicht, wie sie Oma für euch beide sein kann.
— Es sind sechs Jahre vergangen, Mama…
Ich hatte keine Antwort.
Am nächsten Morgen herrschte Trubel: Duschen, Frühstück, Frisuren, Make-up…
Kaum angekommen, rannten die Mädchen in die Umkleide.
Ich war gerade dabei, meine Ohrringe zu befestigen, als Lily auftauchte – mit Tränen im Gesicht.
— MAMA?? Mein Kleid…
— Was ist passiert?
— Es ist RUINIERT.
Ich stürmte ins Zimmer. Linda stand da, perfekt angezogen.
Auf dem Tisch lag Lilys Kleid: ein langer Riss an der Seite, eine braune Fleck am Oberteil, und ein geschmolzener Teil direkt auf den gestickten Blumen.
— Oh mein Gott… — murmelte ich, das Kleid in den Händen.
— Gestern Abend war es noch in Ordnung — flüsterte Lily.
Wendy trat hinzu.
— Wirklich schade. Vielleicht war es einfach nicht bestimmt. Ein Zeichen, vielleicht?
— Ein Zeichen wofür?! — fauchte ich.
— Dass manche Mädchen nicht auf die Bühne gehören.
Charles kam hinzu.
— Was ist hier los?
Bevor ich antworten konnte, trat Linda vor:
— Ich glaube, Oma hat Lilys Kleid zerstört.
— Was?! Mama, hast du…?
— Unsinn — sagte Wendy. — Das ist lächerlich.
— Ich habe dich gesehen — sagte Lily. — Letzte Nacht. Du bist reingekommen. Ich dachte, du bügelst es.
Stille. Wendys Gesicht erstarrte.
— Linda, Schatz, du musst geträumt haben.
— Hab ich nicht.
Dann zog Linda ihr Kleid aus.
— Nimm meins.
— Nein, das kann ich nicht…
— Doch, kannst du. Wir sind Schwestern. So machen das Schwestern.
— Linda! Zieh das Kleid wieder an!
— Es ist egal, wer es trägt. Wir gehören beide auf diese Bühne.
— Das lasse ich nicht zu.
— Dann erklär du den Leuten, warum ein Kleid zerstört ist — und warum nur eine Enkelin auftreten darf.
— Sie ist nicht meine Enkelin — zischte Wendy.
Das Gemeindezentrum war voll.
Ich half Lily in Lindas Kleid.
Linda blieb in Jeans und Bluse hinter der Bühne.
— Du musst das nicht tun — sagte Lily.
— Es wird andere Auftritte geben. Aber es gibt nur eine dich.
Lily gewann keinen ersten Platz.
Aber sie glänzte heller als alle anderen.
Wendy verließ die Veranstaltung, ohne ein Wort.
Am Abend saßen wir zu viert auf dem Sofa, Pizza auf dem Schoß.
Charles bekam eine Nachricht von seiner Mutter:
„Ich hoffe, du bist glücklich mit deiner Entscheidung.“
Er zeigte sie mir und schrieb zurück:
„Bin ich. Jetzt ist es deine Entscheidung.“
Wir hörten sechs Monate nichts von Wendy.
Dann rief sie an. Sie wollte uns besuchen.
Es war keine Entschuldigung. Kein Eingeständnis.
Aber ein neuer Anfang.
