Die Nacht hatte sich bereits über den Wald gelegt und die Bäume wirkten wie gespenstische Schatten unter dem düsteren Himmel. Während die meisten Familien es sich zu Hause gemütlich machten, spielte sich tief im Wald eine beunruhigende Szene ab: Eine alte Frau führte ihre beiden Enkelkinder tiefer ins Dickicht hinein.
— „Wir sind da!“, rief Valentina Igorevna mit unheimlich fröhlicher Stimme. „Man hat mir gesagt, ihr seid böse… und ich muss euch loswerden!“
Der Junge blickte sie verwirrt an.
— „Oma, warum sagst du, dass wir böse sind?“
— „Ruhe!“, fauchte sie. „Ihr werdet euch in Würmer verwandeln und alles Gute verschlingen!“
Doch ihre Wut verflog so schnell, wie sie gekommen war. Sie streichelte den Kindern sanft über die Haare, während ihr Tränen über das Gesicht liefen.
— „Habt keine Angst. Eure Mutter wird mir dankbar sein, wenn ich sie von euch befreit habe“, flüsterte sie, als wolle sie sich selbst überzeugen.
Dann setzte sie sich auf den Boden und begann mit bloßen Händen ein Loch zu graben. In die Grube legte sie einen alten Besen – ein seltsames Symbol, als wolle sie einen Ort des Vergessens markieren.
— „Oma, mir ist kalt… Lass uns nach Hause gehen“, bat die kleine Anya mit zitternder Stimme.
Diese Worte trafen Valentina ins Herz. Plötzlich lachte sie schrill auf.
— „Nein! Ihr habt eure Mutter getötet! Ihr bleibt hier! Ihr werdet nie nach Hause zurückkehren!“, schrie sie, drehte sich um und verschwand rasch in der Dunkelheit des Waldes.
Anya begann zu weinen. Ihr älterer Bruder legte den Arm um sie und führte sie durch das Unterholz – in der Hoffnung, einen Weg zurück zu den Menschen zu finden. Sie froren schrecklich, denn ihre Großmutter hatte sie viel zu leicht bekleidet.
Zur gleichen Zeit hatte eine Frau namens Nadeschda gerade auf der Müllhalde brauchbare Dinge zusammengesucht. Sie lud alles, was sie finden konnte, auf ihren kleinen Wagen. Ihre bescheidene Hütte am Rande des Waldes war ihr einziger Rückzugsort geworden – nach einem Leben voller Schmerz.
Früher hatte sie einen Mann geliebt, doch dieser entpuppte sich als Lügner und Trinker. Er erzählte Geschichten über das Leben als Kapitän auf hoher See – alles erlogen.
Nadeschda arbeitete hart auf einem Bauernhof als Melkerin und übernahm jede Extraschicht, um die Familie zu ernähren. Doch ihr gesamter Lohn verschwand in Alkohol, den ihr Mann mit seinen Trinkkumpanen teilte.
Sie hatte zwei Kinder, die sie oft zur Arbeit mitnahm. Aber die Gewalt, das ständige Geschrei und der Alkoholismus zerstörten sie langsam.
Sie reichte die Scheidung ein. Doch an dem Tag, als sie für eine kranke Kollegin einspringen musste, ließ sie die Kinder beim scheinbar nüchternen Ehemann.
Doch sobald sie weg war, begann er wieder zu trinken. Er verschloss den Ofen zu früh, und Kohlenmonoxid breitete sich im Haus aus.
Als Nadeschda zurückkehrte, fand sie ihre Kinder tot vor.
Der Verlust zerbrach sie. Sie verlor den Bezug zur Realität, irrte durch Friedhöfe und begann selbst zu trinken. Schließlich verlor sie ihre Arbeit, ihr Zuhause – und landete auf der Straße, zwischen Müll und Schutt.
Eines bitterkalten Abends begab sie sich in eine verlassene Fabrik, um sich etwas zu wärmen. Plötzlich hörte sie Kinder weinen.
Neugierig ging sie dem Geräusch nach – und fand zwei zitternde Kinder auf einem Baumstumpf. Der Junge versuchte, seine Schwester zu ermutigen weiterzugehen, doch sie war zu schwach.
— „Kinder, wo sind eure Eltern?“, fragte Nadeschda sanft.
— „Wir haben niemanden mehr… Unsere Oma hat uns hier gelassen. Sie sagte, wir bringen Unglück. Unsere Mutter ist im Krankenhaus gestorben“, sagte der Junge traurig.
Nadeschda war erschüttert. Etwas in ihr zerbrach endgültig.
— „Kommt mit mir. Ich werde euch wärmen, euch Essen geben… Ich hatte auch Kinder… aber ich konnte sie nicht beschützen…“, sagte sie unter Tränen.
Die Kinder hatten nichts mehr zu verlieren – sie folgten ihr. In ihrer Hütte angekommen, legte sie sie unter eine dicke Decke.
Sie beobachtete sie beim Schlafen, mit einem gebrochenen Herzen. Dann holte sie die Geburtsurkunden ihrer verstorbenen Kinder hervor, die sie all die Jahre versteckt hatte.
— „Solange ich lebe, werdet ihr nicht ins Heim kommen“, flüsterte sie.
Am Morgen stand Nadeschda früh auf, wusch sich, zog sich ordentlich an und nahm die Kinder bei der Hand. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Bahnhof – in ein neues Leben.
Zur selben Zeit lag Liliya, die leibliche Mutter der Kinder, unruhig in einem Krankenhausbett. Sie war eine elegante Frau, 26 Jahre alt, und hatte einst eine vielversprechende Zukunft.
Ihre Mutter Valentina, eine mächtige Beamtin, hatte ihr zu Beginn geholfen. Liliya heiratete Dmitry – einen liebevollen Mann. Doch als er Stabilität fand, verließ er sie und die Kinder für einen Job im Ausland – und kam nie zurück.
Valentina suchte Trost in der Religion – und geriet in eine gefährliche Sekte. Sie spendete all ihr Geld, verlor den Verstand.
Nach einem Autounfall landete Liliya im Krankenhaus. Ihre Mutter besuchte sie nie. Als sie endlich entlassen wurde, fand sie ihr Zuhause verwüstet. Die Kinder waren verschwunden, und Valentina wurde lachend und weinend zugleich angetroffen. Sie musste zwangseingewiesen werden.
Liliya war am Boden zerstört. Doch etwas in ihr hielt sie am Leben.
Eines Tages erschien Nadeschda im Kindergarten, in dem Liliya inzwischen arbeitete. Sie bewarb sich als Kindermädchen – und brachte die Kinder mit.
Als sie das Büro betrat, brach Liliya in Ohnmacht zusammen.
— „Mama! Mama!“, riefen die Kinder, liefen zu ihr und umarmten sie.
Nadeschda stand wie versteinert. Doch als die Wahrheit herauskam, machte Liliya ihr keine Vorwürfe. Stattdessen umarmte sie sie.
Zwei Frauen, vom Leben gezeichnet, fanden Trost ineinander.
Liliya wurde mit ihren Kindern wiedervereint. Nadeschda wurde zur zweiten Mutter – zur wahren Großmutter. Gemeinsam bauten sie ihr Leben wieder auf.
